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10.10.2022 - Erfolgsgeschichten: Wie ein Jugendlicher den richtigen Weg findet


Unsere neue Serie "Erfolgsgeschichten" soll den Blick weg von Hindernissen und Problemen hin zu den positiven Entwicklungsschritten bei der Arbeit mit sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen und ihren Familien lenken. Den ersten Beitrag hat Miriam Falkenberg, KJF-Mitarbeiterin von SBW-Flexible Hilfen, aufgeschrieben. Darin erzählt sie von ihrem Schützling Ahmet. In dieser Geschichte gibt es neben Höhen auch Tiefen. Aber die Freude darüber, dass Ahmet langsam aber stetig seinen Weg macht, überwiegt.

Alle Jugendlichen kennen Zeiten der Verunsicherung auf dem schwierigen Weg zu einem selbstbestimmten Leben. Manchmal brauchen Sie auch Unterstützung bei der Suche. Symbolfoto: Tiago-Felipe Ferreira, unsplash
Vor vielen Jahren haben wir es uns bereits angewöhnt in unseren Teamsitzungen, und es war wohl eine unserer weisesten Entscheidungen: Wir wollten nicht mehr nur über Fälle, Krisen, Probleme und Organisatorisches sprechen, sondern auch über Erfolge in den Familien, die sich während (und zuweilen auch aufgrund) der Begleitung durch unsere ambulanten Erziehungshilfen zeigen. Denn Erfolge gibt es - schaut man genauer hin - fast immer zu vermelden und seien sie noch so klein. Nur galt und gilt es immer noch für uns, den Blick dafür zu schärfen und die kleinen und großen frohen Botschaften im Team zu teilen.
 
Allein durch diesen neuen Teampunkt "Erfolgsgeschichten" hat sich unser Blick auf die eigene Arbeit und die Familien verändert.  Denn für uns Pädagoginnen ist es nicht weniger wichtig als für die Kinder, Jugendlichen und Eltern, die wir betreuen, dass wir uns - immer wieder - als selbstwirksam und erfolgreich erleben. Würden wir in der Begleitung der Familien nur auf der Stelle treten oder in Entwicklungen sogar zurückfallen - wir hätten wohl morgens alle wenig Motivation, unsere Arbeit zu tun.
 
Im Laufe der Jahre fällt uns auf, wie sehr auch die Definition von Erfolg von unserer eigenen Wahrnehmung und der der Familien abhängt, und dass es auch die kleinen Erfolge sind, die es zu würdigen gilt: Ein Kind, das sein erstes "befriedigend" in einem verhassten Fach schreibt, oder eine Familie, die sich nicht mehr täglich anschreit. Nicht zuletzt kann auch das Einverständnis von Eltern in einer völlig verfahrenen Situation, ihr Kind vorerst in einer stationären Einrichtung betreuen zu lassen, ein riesiger Erfolg sein - meist gingen ja massive Widerstände voraus. Und dann gibt es in der Rückschau auch große Erfolge zu feiern: Wenn nämlich grundsätzlich neue Weichen innerhalb einer Familie für ein gutes Zusammenleben und verbesserte Lebensverhältnisse gestellt werden konnten. Im Folgenden möchte ich anhand zweier (anonymisierter) Beispiele aus unserem Team Mitte einen Einblick geben, wo sich solche Erfolge auf Dauer eingestellt haben.
Wunden der Vergangenheit

Im Juni 2018 saß Ahmet (16) zum ersten Mal in meinem Büro. Außer "ja", "nein" und "keine Ahnung" war kaum etwas aus ihm herauszubringen. Er saß zusammengesunken auf seinem Stuhl, ein offensichtlich tief unglücklicher, einsamer und verunsicherter Jugendlicher.
 
Der Auftrag an mich war klar: Ahmet sollte wieder eine Schule besuchen - seine Schulabsenzen der letzten Jahre waren enorm -, er sollte in mir eine Ansprechperson für alle medizinischen und persönlichen Probleme finden, er sollte Freunde und sozialen Anschluss finden, und sein Weg als Trans*jugendlicher - die sogenannte Transition vom Mädchen zum Jungen - sollte geprüft und begleitet werden. Außerdem sollten die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz für ihr einziges Kind gestärkt werden. Last not least sollte durch eine AEH eine erneute, bislang erfolglose Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung verhindert werden.
 
Soweit so gut. Doch die erste Zeit mit Ahmet war sehr mühsam. Er sprach kaum, war misstrauisch und fluchte viel. Nach den ersten Begegnungen mit den Eltern lag auf der Hand, dass diese nicht nur mit den Problemen ihres Sohnes, sondern auch mit den eigenen überfordert waren. Die Mutter aus der Türkei, der Vater aus der niederbayrischen Provinz, beide bemühte Menschen, die ihr Kind, das ein Sohn werden wollte, nicht verstanden und ihm bei weitem nicht geben konnten, was es gebraucht hätte. Die Mutter hatte Ahmet, als er sieben Jahre alt war, gesagt, sie gehe kurz einkaufen - und kam dann drei Jahre lang nicht zurück. Keiner weiß bis heute so recht, was sie in dieser Zeit in der Türkei gemacht hat. Der Vater, ein Flughafenarbeiter, war von jetzt auf gleich alleinerziehend. Dieses Trauma war und ist für Ahmet bis heute zutiefst prägend.
 
Hier läuft es gut!
Die Reihe "Erfolgsgeschichten" befasst sich mit dem Arbeitsalltag in unserer Einrichtung SBW-Flexible Hilfen. Im Fokus stehen sollen dabei nicht die Dinge, bei denen es hakt, oder die Probleme, die noch zu lösen sind, sondern die positiven Entwicklungsschritte, die erreichten Zwischenziele, die großen und kleinen Erfolge. Im Arbeitsalltag übersiehtman diese nämlich nur allzu leicht. Dabei können KlientInnen wie BetreuerInnen daraus Kraft für die noch anstehenden Herausforderungen schöpfen.
Auf der "Jungen-Spur"
 
Im Laufe der Zeit merkte er, dass die AEH nicht gegen, sondern für und mit ihm arbeitet. Der wichtigste Schritt dabei war, dass ich seinen Wunsch nach geschlechtsangleichenden Maßnahmen ernst nahm. Schließlich lebte er schon seit vier Jahren durchgehend als Junge, und dies schien die einzige, große Klarheit in seinem verworrenen Leben zu sein.
 
Zum anderen galt es, seine Vergangenheit und die Wunde seiner Vergangenheit anzusehen. Für seine Transition ging er damals auch in Therapie. Diese erlebte er jedoch, genau wie die Schule, als Zwangsmaßnahme. So hat er viele persönliche Dinge und Erinnerungen in die AEH eingebracht. Sein Vertrauen und sein Selbstvertrauen wuchsen in dem Maße, wie er durch einen Ärztewechsel weiter der "Jungen-Spur" folgen konnte.
 
Immer mehr öffnete sich Ahmet, immer mehr Themen brachte er mit: Seine schwierige Beziehung zu seinen Eltern, seine Wahrnehmung von Religion, Welt, Gesellschaft, seine kleinen und großen Träume und auch die große Leerstelle, die seine Zukunft für ihn bedeutete, was seine schulischen und seine Ausbildungswege betraf. Es wurde im Laufe vieler gelaufener Kilometer - im Sitzen redete es sich für Ahmet schlecht - immer offensichtlicher, dass sich hinter der coolen, zunächst schroffen Fassade ein blitzgescheiter, an allem interessierter und sehr verletzter Jugendlicher verbarg. Ein Jugendlicher, der einsam ist, aber meint, dass er keine Menschen braucht - jedoch genau danach sucht, nur nicht weiß, wie.
 
Ich habe immer gehofft, dass Ahmet doch noch eine Regelklasse besuchen und dort ganz natürlich Kontakte schließen wird. Denn Ahmet kann sehr witzig und charmant sein. Doch ein 17-, 18-Jähriger will nicht mehr ins Jugendzentrum gehen, und auch für andere Möglichkeiten zeigte sich Ahmet nicht offen.
 
Immer klarer wurde auch, dass es keinen Sinn machte, in Elternarbeit zu investieren, da es einerseits keine Offenheit für Veränderungen gab, und andererseits Ahmet auch schon zu selbstständig war. Es gab dann 2020 einen Versuch Ahmets auszuziehen und in ein betreutes Einzelwohnen zu gehen. Hier hielt er es nur einen halben Tag aus, bevor er wieder zurückging. Es folgte ein denkwürdiges letztes Familiengespräch, in dem sich alle gut mit der Vorstellung anfreunden konnten, in einer Art Familien-WG zu wohnen. Seither sind auch die massiven Konflikte zwischen Sohn und Eltern erheblich zurückgegangen.
 
Verantwortung übernommen
 
Auch schulisch ist Ahmet seither viel Zickzack gegangen: Nach dem 2018 (erneut) gescheiterten Versuch, sich in einer Regelschule zurecht zu finden, gelangte er zum Schulprojekt Pikassio, in dem er sich für den Mittelschulabschluss anmeldete. Von seiner Intelligenz her hätte er auch das Abitur geschafft, doch musste er auch hier eine zweite Runde drehen, da er nicht zu den Prüfungen erschien. Eine Anmeldung bei der Volkshochschule (VHS) zog er wieder zurück. Im zweiten Jahr bei Pikassio machte Ahmet dann auch handwerkliche Praktikumserfahrungen vor Ort und schloss immerhin mit dem "M-ser", also dem Mittelschulabschluss, ab.
 
Als ich es schon gar nicht mehr erwartet habe, dass Ahmet begreift, dass er für sich selbst und nicht für seine LehrerInnen lernt, machte es bei ihm "Klick". Was auch immer es war - meine Begleitung und meine Beratung oder doch der Druck seiner Krankenkasse, dass er entweder arbeiten oder weiter in die Schule gehen muss - er übernahm von jetzt auf gleich Verantwortung für sich. Er meldete sich im Berufsvorbereitungsjahr ab, kämpfte selbst darum, doch noch mal in eine Vorbereitungsklasse der VHS für den Realschulabschluss aufgenommen zu werden, und hatte Erfolg.
 
In diesem Moment, in dem ich seine Geschichte zusammenfasse, sitzt er über seiner Chemieprüfung. Er büffelt selbständig und in Lerngemeinschaften und ist ein ganzes Schuljahr Tag für Tag in seiner Klasse erschienen. Allein das grenzt für mich an ein Wunder. Aber nicht nur das. Er ist Klassenbester und gibt seinen MitschülerInnen Nachhilfe. Gleichzeitig hat er sich mit meiner Unterstützung für eine eigene Nachhilfe in Chemie/Bio gekümmert, die er sehr zuverlässig und sogar mit Freude besucht.
 
Diese Woche wird er noch einmal Zickzack gehen: Er hat sich nun doch gegen den Besuch der Sozial-FOS ab Herbst entschieden und wird nun glücklicherweise noch auf die Technik-FOS wechseln können. Sein Ziel ist es nun, erst das Fach- und dann das allgemeine Abitur zu machen. Der Plan ist es, danach "irgendwas mit Chemie" zu machen.
 
Die Chemie zwischen uns hat auf jeden Fall gestimmt. Ich denke, bald wird er flügge. Wenn ich an unsere erste Begegnung zurückdenke, habe ich das Gefühl, dass nicht nur körperlich ein anderer Mensch vor mir steht. Er lacht oft, begrüßt auch immer die Kolleginnen, wenn er zu uns kommt, und erzählt einfach drauf los. In allem wirkt er viel souveräner und gereift. Leider flucht er noch viel …
 
Natürlich hat er sich das alles selbst erarbeitet. Zugleich würde er ohne AEH sicherlich an einem ganz anderen Punkt stehen. Das Wichtigste war und ist mir, Ahmet zu zeigen: "Egal, welche Wege du einschlägst, und selbst dann, wenn ich dir von manchen Wegen abgeraten oder dir andere Wege ans Herz gelegt habe, ich bleibe an deiner Seite, und ich finde dich gut, so wie du bist." Denn auch ein Zickzackkurs führt irgendwann doch an ein Ziel, und jede Etappe war zu dem jeweiligen Zeitpunkt für Ahmet sicher auch wichtig und richtig.
 
Es ist unbeschreiblich schön, einen solchen Weg begleitet zu haben und nun die Früchte zu ernten für das, was man gesät hat.
 
Text: Miriam Falkenberg, Sozialpädagogin bei SBW-Flexible Hilfen

 
Unsere Einrichtung: SBW-Flexible Hilfen München
Neben mehreren anderen Einrichtungen etwa im Eltern-Kind-Bereich bieten "SBW-Flexible Hilfen München" Unterstützung durch Betreutes-Wohnen-Angebote für junge Menschen. SBW steht für sozialpädagogisch betreutes Wohnen. In zentral gelegenen Gebäuden in der Stadt werden weibliche und männliche Jugendliche individuell betreut. Im Fokus stehen Jugendliche und junge Erwachsene in besonderen sozialen Schwierigkeiten, die aus Familien oder anderen Lebenskontexten kommen, in denen sie keine angemessene Förderung beziehungsweise Unterstützung erhalten und dort in der Regel nicht mehr bleiben können oder wollen. Die individuellen Betreuungsangebote umfassen unter anderem regelmäßige Einzel- und Gruppengespräche, Betreuung vor Ort in den Wohneinheiten und in der Kontaktstelle, psychosoziale Hilfen, Krisenintervention, alltagspraktische Hilfen und lebenspraktische Förderung, soziale Gruppenarbeit, Angehörigenarbeit sowie eine ambulante Nachbetreuung. Die Regelbetreuung beträgt 10 Stunden pro Woche, ist aber nach Bedarf flexibel veränderbar zwischen 5 und 15 Stunden.